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CHUN_2003_Zur_linguistischen_Pragmatik_des_Chinesischen_als_Fremdsprache

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B EITR?GE

C HUN N R.18/2003,S.17-38

Zur linguistischen Pragmatik des Chinesischen als Fremdsprache

LIANG Yong

1.Einleitung

Ein Kollege aus China wurde w?hrend seines Besuchs an unserem Institut in einem Hotel am Stadtrand untergebracht. Als ich ihn am n?chsten Tag nach sei-ner Ankunft fragte:

住的情况怎么样?(Sind Sie gut untergebracht?)

bekam ich die Antwort:

从旅馆窗户看出去景色还不错.(Der Blick aus dem Hotelfenster ist recht hübsch.)

Was meinte er damit? War er mit der Unterkunft zufrieden? Oder wollte er nur sagen, dass lediglich der Ausblick sch?n ist und der Rest weniger?

Das und ?hnliches erleben wir nicht nur im akademischen Leben, sondern tagt?glich in verschiedensten Kommunikationssituationen auch im Alltag, in denen wir zwar verstehen, was der Gespr?chspartner ?u?ert, nicht aber was er meint. Manchmal verstehen wir jedoch auch etwas, das der Gespr?chspartner nicht gesagt hat oder zumindest nicht direkt gesagt hat, z. B.:

A: 今天晚上我们一起去看电影好吗?(Gehen wir heute Abend zusammen ins Kino?)

B: 哎呀,明天上午我们考试。(Oh, morgen Vormittag haben wir Prüfung.) Warum k?nnen wir hier die ?u?erung von B sofort als eine h?fliche Ablehnung verstehen, obwohl dabei keinerlei Negationslexeme verwendet werden? W?h-rend diese Aussage als eine klare Antwort auch einem Fremdsprachensprecher, also jemandem, der Chinesisch als Fremdsprache benutzt, wohl keine Verste-hensschwierigkeit bereiten würde, würden die ?u?erungen im folgenden Bei-spiel für eine richtige Interpretation sprach- und kulturspezifisches Wissen ver-langen:1

服务员:面条里要放辣油吗?(Kellner: M?chten Sie scharfe So?e in der Nudel-suppe?)

顾客: 我是地道的四川人。 (Gast: Ich bin ein richtiger Sichuaner.) Besonders in China wird ja bekanntlich viel ?fter und st?rker "indirekt" kommu-niziert. Dabei wird gerne eine Gespr?chstechnik praktiziert, die den "Sinn über die ge?u?erten Worte hinaus" (言外之意) betont (Liang 1998:172).

Abgesehen von der kulturellen Bedingtheit des Kommunikationsverhaltens, auf die ich sp?ter noch zurückkommen werde, k?nnen wir davon ausgehen, dass

1 Das Beispiel stammt aus Shao Jingmin u.a. 2001, 270.

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wir ?u?erungen, die wir h?ren oder lesen, nur verstehen, weil wir mehr kennen als die W?rter der Sprache und die grammatischen Regeln ihrer korrekten Ver-knüpfung (Bublitz 2001:11). Man spricht hier von pragmatischem Wissen, das neben unserem lexikalisch-grammatischen Wissen das Gelingen der Kommuni-kation gew?hrleistet bzw. dieses erst erm?glicht.

In der allgemeinen Sprachwissenschaft hat in den 1970er Jahren die sog. "pragmatische Wende" stattgefunden. Im Gegensatz zur bis dahin vorherrschen-den strukturalistischen Systemlinguistik steht nun sprachliches Handeln im Zentrum des Forschungsinteresses. Die linguistische Pragmatik versucht, grund-s?tzliche Regeln aufzuzeigen und zu beschreiben, nach denen Handlungen durch Einsatz sprachlicher Formen in Situationen vollzogen werden. Sie untersucht die Bedingungen, unter denen mit dem Vollzug sprachlicher Handlungen bestimmte kommunikative Ziele erreicht werden k?nnen.2

Für die Vermittlung und Beherrschung einer Fremdsprache ist die Pragmatik von elementarer Bedeutung. Die Grammatik, vor allem in ihrem engeren Sinne als Regelsystem von Morphologie und Syntax, kann zwar durchaus interferenz-anf?llige Faktoren bedingen. Grammatische Fehler müssen aber schon au?eror-dentlich gravierend sein, wie Knapp (1987:442) zu Recht aufzeigt, wenn an ih-nen das Zustandekommen von Verst?ndigung scheitern soll. Viel gewichtiger sind dagegen die Kenntnisse der pragmatischen Regeln der Kommunikation, deren Abweichungen bzw. einfacher Transfer von einer Sprache in die andere in der fremdsprachlichen Kommunikation zu pragmatischen Interferenzen und da-durch zu Unverst?ndlichkeit bzw. Missverst?ndnissen führen k?nnen (vgl. Liang 1992:65f.).

Im Fremdsprachenunterricht muss daher neben der grammatischen Kompe-tenz auch die pragmatische Kompetenz vermittelt werden. Sie zeigt sich z. B. darin, dass Fremdsprachensprecher bzw. -lerner in der Lage sind, ?u?erungen zu bestimmten Situationen passend zu gestalten, dass sie pragmatische Schlüsse ziehen k?nnen und dass sie auch missglückte ?u?erungen erkennen und beurtei-len k?nnen. Pragmatische Kompetenz bedeutet aber auch, wie eine Grammatik in der Kommunikation zur Anwendung gebracht wird, sei es in der Produktion oder der Interpretation von ?u?erungen (vgl. Meibauer 2001:9).

Die inzwischen in den meisten fremdsprachenphilologischen Disziplinen be-gründete Einsicht, dass Kenntnisse pragmatischer Regeln und Bedingungen für die Fremdsprachenausbildung unerl?sslich sind, ist im Bereich Chinesisch als Fremdsprache bislang noch wenig verbreitet. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden versucht, die Bedeutung und Aufgabenstellung der linguistischen Pragmatik für das Chinesische als Fremdsprache aufzuzeigen und zu diskutieren.

2 Zur Definition der "linguistischen Pragmatik" vgl. u. a. Levinson 1994 (1983), 5ff.; Bublitz 2001, 9; Meibauer 2001, 2ff.

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2.Chinesisch als Forschungsgegenstand der linguistischen Pragmatik

Die Sprachwissenschaft in China besch?ftigt sich bereits seit den 1980er Jahren mit der linguistischen Pragmatik. Die ersten Arbeiten, die in diesem For-schungszusammenhang entstanden sind, beschr?nkten sich jedoch auf die Wie-dergabe der vor allem im angloamerikanischen Kontext entstandenen Ans?tze und Konzepte (Grice, Searle, Leech u.a.), die sich fast ausschlie?lich auf das Englische beziehen.3 Zu dieser Zeit war die chinesische Sprache noch nicht Ge-genstand der linguistisch-pragmatischen Forschung.

Erst in den 1990er Jahren hat sich in China eine eigenst?ndige linguistische Pragmatik entwickelt. In einschl?gigen Fachzeitschriften war einerseits weiter eine Fülle an übersetzungen westlicher Studien zu verzeichnen, andererseits erschienen die ersten gr??eren Untersuchungen, die Chinesisch als Forschungs-gegenstand hatten.4 Das Sprachinstitut der Chinesischen Akademie der Sozial-wissenschaften in Beijing gab 1994 einen Sammelband heraus, der allein dem Thema "Pragmatik" gewidmet ist. Auch in Taiwan und Hongkong hat die lingu-istische Pragmatik, die auf die Untersuchung der chinesischen Sprache zielt, zu-nehmend an Bedeutung gewonnen.5 Im neuen Jahrhundert h?lt die Konjunktur dieses Themas in der chinesischen Sprachwissenschaft an. In Guangzhou ist ei-ne Online-Zeitschrift zum Thema "Pragmatik der chinesischen Sprache" einge-richtet worden.6 Im Jahr 2001 fand die 7. Nationale Pragmatik-Konferenz in Suzhou statt, an der mehr als 150 Sprachwissenschaftler aus 60 Hochschulen teilnahmen.7

Inhaltlich sind inzwischen fast alle bekannten Teilbereiche der linguistischen Pragmatik erfasst worden, von Sprechakt über Pr?supposition, Implikatur, Dei-xis bis zur Konversationsanalyse. Auch und insbesondere dem Verh?ltnis von Grammatik und Pragmatik wird viel Aufmerksamkeit geschenkt.8 Dabei wird vor allem versucht, die Pragmatik als eine zus?tzliche Analyseebene heranzu-ziehen, um einige klassische, in der chinesischen Grammatikforschung bislang ungel?ste Probleme nun aus einer neuen Perspektive zu analysieren und zu er-kl?ren. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die weit verbrei-

3 Den Anfang dieser Entwicklung machte der Aufsatz von Hu Zhuanglin, der 1980 in der Fachzeitschrift《国外语言学》erschien. Auch die erste, 1988 von He Ziran verfasste Mono-graphie "Linguistische Pragmatik" ist mehr oder weniger eine übersetzung des Einführungs-werks von Levinson aus dem Jahr 1983.

4 Eine Liste von in dieser Zeit publizierten Studien findet sich in Qian Guanlian 1997, 60ff.

5 Einen überblick über die in diesem Zusammenhang entstandenen Studien bietet Li Cherry Ing 2000.

6 Pragmatics Newsletter for Teachers and Researchers 语用学教研通讯;语用学在线:https://www.wendangku.net/doc/044510390.html, /pragmatics.

7 Siehe den Tagungsbericht in "Pragmatics Newsletter" No. 3, 2001.

8 Zu erw?hnen sind in diesem Forschungszusammenhang z. B. die Arbeiten von Huang Yan 1994; Biq Yung-O 2000; Chen Ping 1996; Tao Hongyin 1999, Jiang Yan 2000 u.v.m.

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tete These, nach der das Verh?ltnis von Grammatik und Pragmatik von Sprache zu Sprache unterschiedlich ausgepr?gt ist. Manche sprachlichen Ph?nomene, wie etwa die Satzgliedstellung, die in europ?ischen Sprachen grammatisch gere-gelt wird, k?nnten so im Chinesischen als rein pragmatisches Ph?nomen erkl?rt werden.

Ganz in der Tradition der anglo-amerikanischen Pragmatikforschung sind H?flichkeitsformen und -strategien ein beliebtes Thema auch in den einschl?gi-gen Untersuchungen in China. So legte Shih Yu-hwei 1990 eine Studie vor, in der die H?flichkeitsprinzipien und Diskursstrategien im Chinesischen und Eng-lischen miteinander verglichen werden, wenn auch die konkrete Analyse einzel-ner Sprechhandlungen ausschlie?lich auf die in der anglo-amerikanischen Prag-matikforschung entwickelten Konzepte zurückgreift.9 ?hnlich verhalten sich einige sprechaktanalytische Arbeiten, die sich in der Regel auf einige wenige, besonders h?flichkeitssensible Sprechakte (wie etwa Bitten, Danken, Entschul-digen, Auffordern, Kompliment bzw. Reaktion auf Kompliment, Beschweren) beschr?nken, wie etwa bei Chen Rong (1993), Zhang Yanyin (1995), Chen Xing (1995), Gao Hong (1999) u.a. Eher als Ausnahme k?nnen diejenigen Arbeiten gelten, die sich mit pragmatischen Aspekten des Fremdsprachenlehrens und -lernens befassen und dabei versuchen, durch sprechakt- bzw. konversations-analytische Untersuchungen von Gespr?chen zwischen englischen Native Spea-kers und chinesischen Englischlernern auf die interkulturellen Probleme einzu-gehen.

Bei all diesen erfreulichen Forschungsaktivit?ten ist allerdings zu bemerken, dass Chinesisch inzwischen zwar zunehmend als Gegenstand der Pragmatikfor-schung herangezogen wird und die Fachdisziplin auch entsprechend als "Chine-sische Pragmatik" bezeichnet wird. Forschungsmethodologisch und -strategisch wird dabei jedoch zumeist ein "Verfahren der Best?tigung" praktiziert. Best?tigt wird, ob die nach den vorgegebenen Kategorien beobachtbaren Realisierungs-formen sprachlichen Handelns nun auch in der chinesischen Sprache zu beo-bachten sind oder nicht. Dabei wird erwartet, dass die Eigenschaften sprachli-chen Handelns grunds?tzlich in allen Sprachen gleich sind. Unterschiede werden lediglich in ihren bevorzugten Realisierungsformen, in ihren Vorkommensbe-dingungen und -modalit?ten, in ihrem Grad und in ihrer Intensit?t identifiziert. Dieses Defizit hat zweifelsohne mit der angloamerikanischen Dominanz in der linguistisch-pragmatischen Forschung zu tun, in der lange Zeit eine Perspek-

9 Wie etwa die Konversationsmaximen von Grice (1975), die H?flichkeitsprinzipien von Leech (1983), das Face-Konzept und die H?flichkeitsstrategien von Brown und Levinson (1978, 1983). Die betont universalistisch ausgepr?gte Arbeit von Brown und Levinson, die zu den am meisten rezipierten und daher einfluss- und folgenreichsten H?flichkeitsstudien der letzten zwei Jahrzehnte z?hlt, wird inzwischen vor allem von Forschern aus Asien zunehmend auch kritisch betrachtet. Gu Yueguo stellt z.B. in seiner publizierten Arbeit über "Politeness phenomena in modern Chinese" fest, dass das genannte Modell für die Beschreibung von chi-nesischer H?flichkeit v?llig unzureichend sei.

Z UR LINGUISTISCHEN P RAGMATIK DES C HA F 21 tive dominiert hat, die von einem hohen Ma? an Universalit?t sprachlichen Han-delns ausgeht und dabei die kulturellen und sozialen Werte der Sprechhandlun-gen weitgehend ausklammert. Die Tatsache, dass sich die Ermittlung und Aus-arbeitung linguistisch-pragmatischer Grundregeln und -prinzipien nahezu aus-schlie?lich auf Daten und Erfahrungen stützen, die aus den sprachlichen Interak-tionen des Englischen stammen, wird ignoriert. Bezeichnend für diesen Zustand ist auch die Tatsache, dass die chinesischen Pragmatikforscher bislang fast aus-schlie?lich aus den fremdsprachenphilologischen F?chern, allen voran aus den Englischabteilungen der chinesischen Universit?ten kommen. Die sinologische Sprachwissenschaft in China wie im Ausland hat die "pragmatische Wende" bis auf einige wenige Ausnahmen noch nicht erreicht.

Es ist eine dringende Aufgabe, auch und gerade im Bereich des Chinesischen als Fremdsprache, die Forschung zur linguistischen Pragmatik zu verst?rken und zu f?rdern. Chinesisch zum Gegenstand der linguistisch-pragmatischen For-schung zu machen, kann nicht nur zur vollst?ndigen Beschreibung dieser Spra-che und zu ihrer Beherrschung als Mutter- und vor allem als Fremdsprache bei-tragen, sondern auch zur allgemeinen Theoriebildung der linguistischen Pragma-tik. Dabei k?nnen die in der allgemeinen Sprachwissenschaft inzwischen etab-lierten Konzepte und Methoden eine erste Orientierungshilfe liefern, sie sollen zugleich interlingual und interkulturell hinterfragt und überprüft werden.

3.Kontrastive Pragmatik

Innerhalb der linguistischen Pragmatik hat sich in den 1980er und 90er Jahren ein neuer Schwerpunkt herausgebildet, der den Untersuchungen der Sprachver-wendung im interlingualen Vergleich gewidmet ist. Die zentrale Aufgabe der sog. Kontrastiven Pragmatik soll nach Coulmas (1981:53) darin bestehen, "pragmatische Kontraste zwischen Sprachen aufzuzeigen und interlinguale Dif-ferenzen im jeweils gegebenen Verh?ltnis zwischen Struktur und Funktion der Sprache durchsichtig zu machen". Die Kontrastive Pragmatik vergleicht also, anders als die vorwiegend sprachsystembezogene und sprachtypologisch be-gründete Kontrastive Linguistik, die Realisierungen gleicher Sprechakte in glei-chen bzw. ?hnlichen Situationskontexten in verschiedenen Sprachen und l?sst somit auch die situativen, funktionalen und gesellschaftlichen Faktoren der Sprachverwendung in ihre Untersuchungen mit einflie?en.

Die Vertreter der Kontrastiven Pragmatik betrachten Sprechakte als situated speech, welche, wenn nicht strukturell, so doch funktional einzelsprachlich ver-gleichbar ist (vgl. z. B. Blum-Kulka/House/Kasper 1981). Eine Analyse der Realisierungen von Sprechakten under the same social constraints soll somit wichtige Kenntnisse über die m?glichen kulturellen Variationen erbringen, die zur Kl?rung der Fehlleistungen vor allem in der fremdsprachlichen Kommunika-

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tion beitragen k?nnen. Ein Beispiel:10

direkt a) 把房间打扫干净!(R?um das Zimmer auf!)

b) 请把房间打扫一下。(R?um das Zimmer bitte mal auf!)

c) 你能把房间打扫打扫吗?(K?nntest du das Zimmer aufr?umen?)

d) 把房间打扫打扫怎么样?(Wie w?re es mit Aufr?umen?)

indirekt e) 房间真脏。今天下午我有朋友要来。(Das Zimmer sieht richtig dreckig aus. Ich habe heute Nachmittag Freunde zu Besuch.)

Es geht dabei um den Sprechakt AUFFORDERN in einem Situationskontext, in dem ein Mitbewohner zum Aufr?umen veranlasst werden soll. Durch Vergleich mit anderen Sprachen wird versucht, eine Dichotomie von "Direktheit" und "In-direktheit" für die Bestimmung eines h?flichen Sprachverhaltens zu konstatieren und dabei einzelsprachlich unterschiedliche Graduierungsstufen in Verbindung mit unterschiedlichen Modalit?tsmarkierungen aufzuzeigen.11 Es ist allerdings fraglich, ob eine Parallelisierung von lexikalisch-syntaktischen Ausdrucksfor-men als Realisierung illokution?rer Akte in den unterschiedlichen Einzelspra-chen kommunikativ zul?ssig ist. Zu bedenken ist auch, ob eine derartige Kon-trastierung überhaupt neue, für den Unterricht des Chinesischen als Fremdspra-che relevante Erkenntnisse bringen würde.

In der Kontrastiven Pragmatik ist nach wie vor umstritten, ob die Strategien für die Realisierung von Sprechakten oder nur deren Realisierungsformen ein-zelsprach- und kulturspezifisch bzw. universal sind. Unklar ist auch die Frage, ob die Funktionen von Sprechakten, wie in der Kontrastiven Pragmatik meist angenommen wird, wirklich universeller Natur mit kulturell variierten und vari-ierbaren Ausführungsbestimmungen sind oder ob diese kulturell auch so grund-legend anders sein k?nnen, dass man vielleicht auch unvergleichbare Sprach-funktionen nebeneinander stellen muss (vgl. u. a. Wierzbicka 1985).

Diese Forschungsfragen k?nnen nicht ausreichend beantwortet werden, wenn die Kontrastive Pragmatik konzeptuell von einer Korrelation von Kultur und Sprachverwendung ausgeht, die immer nur auf als universell unterstellte soziale wie linguistische Kategorien zurückgreift, wie dies in den meisten Untersuchun-gen der Kontrastiven Pragmatik bisher der Fall war (vgl. Hinnenkamp 1994:54). Problematisch ist grunds?tzlich auch, wenn der Vergleich lediglich als Kontras-tierung akzentuiert wird. Kontrastiert werden ja in aller Regel nur "oberfl?chen-strukturell" vorfindbare Ph?nomene, w?hrend, wie Clyne (1993:5) kritisiert, "bei der Aufstellung von Kontrastkriterien sowie bei der Interpretation der Untersu-chungsergebnisse nur selten Kulturwertesysteme diskutiert werden". Folglich werden die "tiefenstrukturellen" Regelungen des menschlichen Umgangs, die in verschiedenen Kulturen zu unterschiedlich angelegten Auspr?gungen führen,

10 Die Beispielanalyse stammt aus Zhang Yanyin (1995:26f.).

11 Vgl. dazu auch die deutsch-englisch vergleichende, sprechaktanalytische Arbeit von House/Kasper 1981.

Z UR LINGUISTISCHEN P RAGMATIK DES C HA F 23 denen die Sprachverwendung und die sprachliche Verst?ndigung der Menschen unterliegen, übersehen oder ausgeblendet.

Zur Verdeutlichung der genannten Problematik m?chte ich nun eine ausführ-lichere Beispielanalyse vornehmen, und zwar anhand des Anredeverhaltens im Chinesischen.12 Die chinesischen Anredepronomina 您(nin) und你(ni) etwa werden in nicht wenigen Lehrbüchern für Chinesisch als Fremdsprache als Ent-sprechungen zum deutschen Sie und du erkl?rt. In der chinesischen Gegenwarts-sprache kann nin zwar als h?fliche Anredeform eingesetzt werden, deren prag-matische Verwendungsbedingungen zeigen jedoch evidente Unterschiede zu den vermeintlichen ?quivalenten etwa in der deutschen Sprache auf. Es ist h?chst problematisch, nin als h?fliche Anredeform, wie etwa bei Hu/Grove (1991:21) mit vous im Franz?sisch, Sie im Deutschen und usted im Spanischen gleichzu-setzen.

Im heutigen Chinesisch wird nin zwar als h?flichkeitsbezeugende Anrede-form gebraucht, es findet jedoch nur eine stark begrenzte Verwendung in ganz bestimmten Situationskontexten.13 Im Gegensatz zu dem in der europ?ischen Anredeforschung gerne als Analysemodell eingesetzten T/V-System, das auf einer Dichotomie von Pronomen T (von lateinisch tu) für die vertrauliche und Pronomen V (von lateinisch vos) für die h?flich-distanzierte Anrede basiert,14 unterliegt die Verwendung von nin einer Reihe von pragmatischen Bedingungen, die sich folgenderma?en zusammenfassen lassen:

Zun?chst wird nin in der Regel nur dann benutzt, wenn eine betonte Respek-tierung bzw. Ehrerbietung gegenüber der angeredeten Person erforderlich ist. Dementsprechend geschieht dies vor allem in einer Interaktionssituation, in der eine asymmetrische Partnerrelation besteht, wie etwa, wenn die angeredete Per-son einen viel h?heren sozialen Status hat oder viel ?lter ist als der Sprecher. Unter Gleichgestellten bzw. Gleichaltrigen wird unabh?ngig von den pers?nli-chen Beziehungen der Gespr?chspartner nur selten nin benutzt. Das bedeutet, dass nin und ni keine ausgepr?gte Dichotomie bilden. Zum Ausdruck der Res-pektierung kann nin zwar als h?flichkeitsbetontes Anredepronomen verwendet werden, w?hrend ni aber nicht gleich Despektierung oder Vertrautheit bedeuten muss.

Des weiteren wird nin in den meisten F?llen "non-reziprok" gebraucht. Wenn jemand eine ?ltere, sozial h?hergestellte Person mit nin anredet, erwidert diese in der Regel mit ni, wenn der Gespr?chspartner jünger oder sozial niedriger-12Ausführliche Analyse des sozialen Anredeverhaltens im Chinesischen siehe Liang (1998, Kap. 3).

13Es ist darauf hinzuweisen, dass sich im klassischen Chinesisch keine Unterscheidung zwischen den beiden Anredepronomina findet. Zur ausführlichen Analyse der historischen Entwicklung der genannten Anredeformen im Chinesischen siehe Liang (1998:92).

14Dieses Analysemodell geht auf die Arbeiten von Brown/Gilman zurück, die in den 60er Jahren entstanden sind und die nachfolgende Anredeforschung ma?geblich beeinflusst haben. Vgl. dazu u. a. Kohz (1984).

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gestellt ist, ohne dass dies als unh?flich oder als Ausdruck einer besonderen Vertrautheit angesehen wird.

A: 张总,您还忙着呐?(Generaldirektor Zhang, sind Sie noch besch?ftigt?) B: 哦,小李,你还没有休息啊?(Oh, kleiner Li, machst du immer noch keine Pause?)

Die ungleiche Verwendung von nin und ni in einer asymmetrischen Partnerbe-ziehung wird nicht als Versto? gegen die H?flichkeitsregel angesehen, weil die-se jeweils dem sozialen Status und der sozialen Rollenzuweisung der angerede-ten Person entspricht.

Drittens zeigt die Verwendungsintensit?t von nin und deren pragmatische Bedeutung auch regional gro?e Unterschiede. Vor allem in Beijing und Umge-bung legt man in den vorhin genannten Konstellationen gro?en Wert auf eine angemessene Verwendung von nin. Hingegen findet sich in vielen Dialekten nach wie vor keine Unterscheidung zwischen ni und seiner h?flichen Variation. Im Shanghaier Dialekt z. B. steht für die 2. Person Singular nur die eine prono-minale Anredeform 侬 (nong) zur Verfügung. Wichtig ist au?erdem die Tatsa-che, dass dort auch in Gespr?chen, die auf Hochchinesisch (putonghua普通话) geführt werden, nur selten nin verwendet wird. Diese Erscheinung ist auch in in vielen anderen Teilen Chinas, vor allem im Süden des Landes, zu beobachten. Die Beispielanalyse zeigt deutlich, dass die Kategorien, die in einer verglei-chenden Studie als tertium comparationis dienen, in einer interlingual bzw. zwi-schenkulturell positionierten Meta-Reflexion gebildet werden müssen. Es ist nicht zul?ssig, die auf eine bestimmte Sprache und Kultur projizierten Katego-rien unüberprüft als Ma?st?be für das Aufsuchen, Klassifizieren und Identifizie-ren des Vergleichsph?nomens in anderen Sprachen und Kulturen zu betrachten und einzusetzen.

4.Interaktive Pragmatik

Die sich auf Sprachvergleiche einzelner Sprechakte stützenden Untersuchungen sind zudem dem grundlegenden Problem der Sprechakttheorie verhaftet, dass allein die Sprecherseite berücksichtigt wird. In authentischen Kommunikations-situationen werden Sprechhandlungen hingegen nur selten isoliert ausgeführt, sondern sie werden erst in strukturierten Handlungssequenzen wirksam. Ein Bei-spiel:

A: 您贵姓?(Wie ist Ihr werter Name?)

B: 免贵,姓张,我是张 。(Ohne 'werter'. Ich hei?e Zhang, ich bin Zhang …)

A: 啊,您就是张 ,久闻大名。(Ach, Sie sind Zhang …, von Ihrem gro?en Namen habe ich seit langem geh?rt.)

Z UR LINGUISTISCHEN P RAGMATIK DES C HA F 25 Hier ist die Respekt zollende ?u?erung gleich ein Angebot an das Gegenüber, durch eine bescheidene Formel sein Selbstimage zu pflegen. Dabei werden in den gegebenen Interaktionssituationen bestimmte Sprechhandlungen und ihre Abfolge erwartet. In den Handlungssequenzen werden wechselweise Leerstellen ge?ffnet und wieder gefüllt.15 Die folgende Situation bei einer privaten Es-senseinladung ist wohl allgemein bekannt:

A: 我不会做菜,没什么好吃的,请大家随便用。(Ich kann überhaupt nicht kochen, und es gibt nichts Gutes zu essen. Greifen Sie bitte zu!)

Es w?re keine gelungene Interaktion, wenn der "selbst-erniedrigenden" ?u?e-rung des Gastgebers keine Respekt zollende Formel wie die folgende vonseiten der G?ste folgen würde:

B: 别客气了,这么多好吃的菜,还说没菜。(Seien Sie nicht so h?flich. So viele gute Speisen haben Sie vorbereitet. Da sagen Sie noch, es g?be nichts

Gutes zu Essen.)

Es gibt im Chinesischen ein breites Spektrum von z.T. routinierten ?u?erungs-formen, die je nach Beziehungskonstellation der Gespr?chspartner wahlweise eingesetzt werden k?nnen. Es w?re peinlich und k?nnte sogar schwerwiegende Folgen haben, wenn man auf eine durch eine entsprechende Routineformel initi-ierte Handlungssequenz gar nicht oder mit nicht situationsad?quaten ?u?erun-gen reagierte. Wenn z. B. ein Chinese nach einem durchaus für beide Seiten in-teressanten Fachgespr?ch mit einem Kollegen folgendes ?u?ert:

A: 真不好意思,让您浪费了这么多时间。(Es ist mir so peinlich, dass Sie so viel Zeit verschwendet haben.)

erwartet er, dass sein Kollege darauf mit einer entsprechenden ?u?erung erwi-dert, wie etwa

B: 哪里,哪里,这次谈话对我的帮助也很大。太感谢您啦!(Von wegen.

Das Gespr?ch hat auch mir viel geholfen. Ich habe Ihnen zu danken.) Ansonsten k?nnte der Initiator dieses wohl ritualisierten Interaktionsvorgangs in Verlegenheit geraten. Auch eine ?u?erung wie

A: 欢迎批评指正!(Ihre Kritik ist uns willkommen!)

ist in aller Regel nicht als eine auffordernde Sprechhandlung zu verstehen, son-dern eher als eine H?flichkeitsbezeugung, nicht nur, weil sich sowohl Personen als auch Institutionen in China immer noch schwer tun, Kritik zu üben oder zu akzeptieren, sondern auch und vor allem deshalb, weil es sich hier um eine Be-scheidenheit ausdrückende Routine handelt, die eine entsprechende Handlung als Antwort verlangt:

15Zur ausführlichen Darstellung der Handlungssequenzierung in Interaktionssituationen siehe Liang (1996a:259ff.).

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B: 哪里,哪里,你们的工作做得这么好,很值得我们学习。(Von wegen.

Sie haben in Ihrer Arbeit gro?artige Leistungen erbracht. Wir haben viel von

Ihnen zu lernen.)

Aus diesen Beispielen ist deutlich zu sehen, dass die Handlungssequenzierung eine wichtige Interaktionsbedingung darstellt.

Da sprachliches Handeln in der Regel in einer Sprecher-H?rer-Interaktion erfolgt, sind Handlungsmuster hier als kommunikative Muster zu verstehen, nach denen die sprachlichen ?u?erungsformen im interaktiven Handeln struk-turiert werden. Insofern ist die Bedeutung des H?rers für eine elementare Form der Kooperation, durch die eine Kommunikation überhaupt erst zustande kom-men kann, ebenso gro? wie die des Sprechers (vgl. Ehlich 1991:131; Liang 1998:186ff.). Die H?reraktivit?ten bezeugen nicht nur das Verhalten des H?rers, sondern k?nnen auch das Verhalten bzw. die Gespr?chsschritt-Konstruktion des aktuellen Sprechers direkt beeinflussen und sogar Auswirkungen auf den gesam-ten Gespr?chsverlauf haben.16

Nehmen wir etwa H?rersignale als Beispiel, die bislang in Lehrbüchern für Chinesisch als Fremdsprache kaum berücksichtigt wurden. H?rersignale zeigen zwar nur Rezipienz an, sie erheben also keinen Anspruch auf Rederechtsüber-nahme, dennoch sind sie gespr?chsorientierte bzw. -steuernde Aktivit?ten und damit interaktiv bedeutsam. Mit H?rersignalen wird vor allem ein kooperatives Gespr?chsverhalten seitens des H?rers angedeutet oder zumindest die Bereit-schaft, ein Gespr?ch kooperativ zu gestalten. Die H?ufigkeit und die Wahl der Formen der H?rersignale k?nnen von verschiedenen Faktoren bestimmt werden. Wesentlich für die Bewertung und Einsch?tzung des H?rerverhaltens ist die Partnerbeziehung der Gespr?chsteilnehmer. In den H?rersignalen wird somit nicht nur die H?rerrolle, sondern gleichzeitig auch die soziale Rolle des H?rers wie des Sprechers widergespiegelt.

Anhand einer empirischen Untersuchung der H?rersignale in chinesischen Gespr?chen konnte belegt werden, dass – vor allem in ?ffentlich geführten Ge-spr?chen – ein kooperatives Gespr?chsverhalten und eine harmonische Ge-spr?chsführung besonders betont werden.17 Dafür ist eine aktive Mitwirkung der Rezipienten mittels H?rersignalen unerl?sslich. Im Chinesischen steht eine Viel-zahl von H?rersignalen zur Verfügung. Einige Beispiele:

16Zur ausführlichen Analyse der H?reraktivit?ten in chinesischen Gespr?chen siehe Liang (1998: 186-210).

17 A. a. O.

Z UR LINGUISTISCHEN P RAGMATIK DES C HA F 27 Schriftzeichen Lautschrift Funktion / Bedeutung

哦o(im vierten Ton) Ausdruck des Verstehens

哦o(im zweiten Ton) Ausdruck des Erstaunens und der Skepsis

喔o(im ersten Ton) Ausdruck des Begreifens

嗯ng(im zweiten Ton) Ausdruck des Zweifels

嗯ng(im dritten Ton) Ausdruck des überraschtseins bzw. Missbilligens

嗯ng (im vierten Ton) Ausdruck der Zustimmung

哟yo(im ersten Ton) Ausdruck der Verwunderung

欸ei (im ersten Ton) Ruflaut

欸ei(im zweiten Ton) Ausdruck des Verblüfftseins

欸ei (im dritten Ton) Ausdruck des Missbilligens

欸ei(im vierten Ton) Ausdruck der Zustimmung

对dui(im vierten Ton) 'richtig', Ausdruck der Zustimmung

好hao (im dritten Ton) 'gut', Ausdruck der Zustimmung

Aus der Tabelle ist ersichtlich, dass einige H?rersignale im Chinesischen je nach Intonation verschiedene Funktionen haben. Die verschiedenen H?rersignale bzw. die verschiedenen Bedeutungen eines chinesischen H?rersignals k?nnen im Deutschen oft nicht mit einem einzigen H?rersignal und in manchen F?llen ü-berhaupt nicht mit entsprechenden H?rersignalen wiedergegeben werden. Au-?erdem sind die diversen Bedeutungen in Bezug auf verschiedene Tonlagen ei-nes und desselben Signals, im Gegensatz zum Deutschen, bereits lexikalisiert und daher in ihrer variierbaren Ausdrucksfunktion relativ konstant.

Die verschiedenen Signalformen und die verschiedenen Funktionen eines Signals, die jeweils in unterschiedlicher Tonlage ausgesprochen werden, kom-men in einem Gespr?ch nicht gleich h?ufig vor. In den von uns analysierten Ge-spr?chen dominieren eindeutig diejenigen H?rersignale, die Verstehens- und Zustimmungsfunktion haben.

Das H?rersignal 嗯 (ng) im vierten Ton ist das schw?chste Zeichen der Zu-stimmung. Es signalisiert nicht viel mehr als das aktive Zuh?ren.18 Mit dem Sig-nal 哦 (o) im vierten Ton und mit 喔 (o), das nur im ersten Ton benutzt wird, werden das Verstehen bzw. Begreifen des vom aktuellen Sprecher Ge?u?erten signalisiert. Sie weisen den sprechenden Partner eindeutig darauf hin, dass die von ihm gegebenen neuen Informationen gut beim H?rer angekommen sind, und bezeugen zugleich, wenn auch nicht explizit, die Anerkennung des H?rers. Die Verwendung dieser beiden H?rersignale ist in der Regel h?flicher als das oben genannte 嗯. Die Verwendung des H?rersignals 欸 (ei) im vierten Ton gibt zu erkennen, dass der H?rer mit dem vom Sprecher Gesagten einverstanden ist. Daher zeigt 欸 im Vergleich zu 哦und 喔eine viel deutlichere Zustimmung an.

18Nach Chao Yuen Ren (1968:816) wird beispielsweise die h?ufige Verwendung dieses

H?rersignals w?hrend eines laufenden Gespr?chsschritts, ohne Kombination mit weiteren Zustimmungssignalen mit st?rkerer Intensit?t, als unh?flich und respektlos empfunden.

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Zustimmung kommt mit dem H?rersignal 对(dui, 'richtig') am st?rksten zum Ausdruck.19 Im Gegensatz zu den anderen genannten H?rersignalen, die aus-schlie?lich als Interjektion auftreten, wird 对nach den grammatischen Katego-rien europ?ischer Sprachen auch als Adjektiv verwendet, das, wie auch bei 好(hao, 'gut'), mit einem eindeutigen semantischen Gehalt versehen ist.

Anhand der hier genannten verbalen H?rersignale mit Verstehens- und Zu-stimmungsfunktion ist eine allgemeine Skala von Kooperationsbereitschaft im H?rerverhalten zu rekonstruieren, die zugleich eine nuancierte Graduierung von H?flichkeitsintensit?t erm?glicht. Es versteht sich, dass ein und dasselbe H?rer-signal in Bezug auf seine H?flichkeitsintensit?t auch je nach Lautst?rke weiter variiert. Wichtig ist schlie?lich, dass ein h?fliches H?rerverhalten oft auch da-durch realisiert wird, dass verschiedene H?rersignale in Kombination miteinan-der verwendet werden. Die Frage, welche Signalformen wie oft verwendet wer-den, kann letztendlich erst in komplexeren interaktiven Handlungszusammen-h?ngen, unter Berücksichtigung der sequentiellen Platzierung der H?rersignale und ihrer Funktion zur Beziehungsgestaltung, beantwortet werden.20

Aus linguistisch-pragmatischer Sicht ist es für eine komplexere Untersu-chung sprachlichen Handelns erforderlich, sprechhandlungstheoretische und konversationsanalytische Aspekte und Methoden als komplement?re Verfahren miteinander zu kombinieren (vgl. Held 1995:57, 59; Liang 1998:36ff.). Die Notwendigkeit eines gespr?chsanalytischen Verfahrens zeigt sich deutlich etwa an dem Rederechtmanagement in einem Gruppengespr?ch. Bei der Beantwor-tung der Frage, wie unter mehreren Teilnehmern ein geordnetes Gespr?chs- und damit Interaktionskontinuum gew?hrleistet werden kann, ohne dass dabei verba-les Chaos entsteht und ohne dass die Beziehungen der Gespr?chspartner und ihr pers?nliches Image substantiell beeintr?chtigt werden, spielen die pragmatischen Regeln des Sprecherwechsels eine entscheidende Rolle. Der Mechanismus, der den Sprecherwechsel reguliert und dadurch eine geordnete Gespr?chsorganisati-on gew?hrleistet, ist keineswegs rein technischer Natur, sondern h?ngt von der kulturspezifischen Grundeinstellung zum Reden und zum Gespr?ch ebenso ab wie von den jeweiligen situativen, sozialen, gespr?chsinhaltlichen und – organi-satorischen Faktoren.21

Insofern ist es nicht ausreichend, die Realisierungsformen der Sprechakte al-lein in Beschr?nkung auf die einzelnen Sprechhandlungen zu ermitteln und zu erkl?ren. Einzelne Mitteilungen k?nnen zwar kommunikativ relevant sein; da-gegen erfordert das Gelingen der Kommunikation eine sehr komplexe Leistung, in der das Verstehen einer kommunikativen Handlung aufgrund verschiedener Wissenselemente bezüglich des soziokulturellen Hintergrunds von Sprecher wie H?rer zustande kommt, und zwar stets in Verbindung mit dem jeweiligen kom-19Als Variation wird oft auch 是 (shi, 'ja') oder 是的 (shide) benutzt.

20Siehe dazu die Beispielanalysen in Liang (1998: 191-196).

21Vgl. dazu ausführlich Liang (1998, Kap. 5).

Z UR LINGUISTISCHEN P RAGMATIK DES C HA F 29 munikativen Umfeld (Liang 1992:69). Dem interaktiven und interkulturellen Charakter des sprachlichen Handelns sollte auch im Fremdsprachenunterricht Rechnung getragen werden.

5. Interkulturelle Pragmatik

Die neuere linguistische Forschung zu sprachlichem Handeln geht von der Grundannahme aus, dass der Sprachverwendung und ihrer handlungsregulieren-den Funktion generell kulturelle Wertsysteme zugrunde liegen.22 Die auf ver-schiedene Kulturwerte bezogenen Handlungsmuster k?nnen durchweg ihre je eigenkulturell gefestigten Profile aufweisen.23

Die kulturelle Bedingtheit des Kommunikationsverhaltens wird in Alltagssi-tuationen vom handelnden Individuum in aller Regel nicht bewusst erfahren. Für die Angeh?rigen der jeweiligen Kultur stellt sich ein Kommunikationsverhalten, das als "richtig" oder "nicht richtig", als "situationsad?quat" oder "nicht situati-onsad?quat" gilt, eher als etwas Selbstverst?ndliches dar. Infolgedessen besteht in einer "kulturellen überschneidungssituation", in der Kommunikationspartner kulturdifferenter Herkunft und Sozialisation aufeinander treffen, oft die Gefahr, dass man nur den eigenkulturell tradierten und sozialisierten Handlungsregeln und Kommunikationsstrategien folgt und die damit verbundenen ?u?erungs-formen wie selbstverst?ndlich als Repertoire gemeinsamer Handlungsmuster zu betrachten pflegt (vgl. Liang 1998:12).

Die so genannten Kennenlern-Fragen etwa, die man in China zur Gespr?chs-er?ffnung, vor allem bei erster Begegnung auch mit Ausl?ndern, gerne stellt, sorgen in Gespr?chen mit deutschen Partnern nicht selten für Befremdung und Unverst?ndnis:

您贵姓? (Wie ist Ihr werter Name?)

您是哪里人?(Woher kommen Sie?)

你今年多大啦?/ 您今年高寿?(Wie alt sind Sie?)

成家了吗?(Sind Sie verheiratet?)

有孩子了吗?(Haben Sie Kinder?)

您一个月挣多少钱?(Wie viel verdienen Sie monatlich?)

Deutsche Gespr?chspartner reagieren in solchen F?llen verst?ndlicherweise nicht selten mit Verwirrung oder gar Emp?rung, weil die Inhalte und die prag-22Vgl. dazu u.a. Chen (1993:67), Matthes (1991:438), Held (1995:76f.; 122ff.), Liang (1998:31f.).

23Handlungsmuster sind nach Rehbein (1977) Verknüpfungen von ?u?erungsformen und Handlungstypen, die konventionell vorgegeben sind und regeln, dass eine ?u?erung als eine Handlung (eines Typs) gelten kann. Handlungsmuster sind gesellschaftlich produzierte und reproduzierbare Organisationsformen des sprachlichen Handelns. Konkrete Handlungen sind Realisierungen des Musters in Situationen.

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matischen Bedeutungen dieser Fragen in ihre Privatsph?re eindringen, in ihren Augen eine Missachtung sozialer Distanz signalisieren und deshalb unh?flich wirken. Diese für Deutsche ungew?hnlichen und unverst?ndlichen Fragen sind für Chinesen ganz normal. Denn sie bedeuten in China nicht automatisch Ver-letzung der sozialen Beziehung oder "Verletzung der Privatsph?re", sondern ganz im Gegenteil, sie gelten in der Regel als Ausdruck von H?flichkeit, und zwar deshalb, weil sie im Chinesischen 关心 (guanxin, "Anteilnahme") am Ge-genüber signalisieren sollen.24 Die Anteilnahme am Wohlbefinden des Partners und seiner n?chsten Umwelt ist eine Interessenkundgabe, die eine wichtige Vor-aussetzung für das Schaffen einer vertrauten Atmosph?re ist und damit den Weg zu einer m?glichen Einführung eines "Fremden" in die eigene Gruppe ebnet.

Erst nach Beobachtung und Feststellung der Andersheit fremdkulturellen Kommunikationsverhaltens ist bisher selbstverst?ndlich scheinendes Hand-lungswissen nicht l?nger selbstverst?ndlich. Als Folge dieser Einsicht ist aller-dings nicht selten zu beobachten, dass Abweichungen von den eigenkulturellen Handlungsmustern als Fehlleistungen des fremdkulturellen Interaktionspartners interpretiert werden oder zu stereotypen Aussagen über die betreffende Sprach- und Kulturgemeinschaft führen. Eine solche Erfahrung k?nnte die Beteiligten aber auch dazu zwingen, über das eigene und das fremde Kommunikationsver-halten nachzudenken, und bietet somit die Chance zu einer bewussten Reflexion über die jeweils soziokulturell gepr?gten Kommunikationskonzepte. Somit bie-tet das Thema "linguistische Pragmatik" nicht nur kulturübergreifende bzw. -anknüpfende Forschungsperspektiven, sondern es hat gleichzeitig auch eine in-terkulturelle Dimension.

Die kulturelle Wertigkeit sozial konstruierter Handlungsregeln liegt in ihrer interaktiven Handlungswirksamkeit. Sie dienen dazu, eigenes und fremdes Ver-halten (individuell und gruppenspezifisch) zu beurteilen und zu regulieren. Wichtig ist, dass in Handlungsmustern nicht nur Handlungsm?glichkeiten ange-boten werden, sondern auch ihre situativen, interaktiven und soziokulturellen Bedingungen und Grenzen begründet sind. In der bisherigen Praxis des Fremd-sprachenunterrichts werden oft nur die Handlungsm?glichkeiten gezeigt und vermittelt, nicht aber die jeweiligen Handlungsbedingungen und -grenzen.

Dieses Problem findet sich auch in einigen in den letzten Jahren publizierten Lehrbüchern für Chinesisch als Fremdsprache, bei denen erste Ans?tze zu einer pragmatischen Orientierung zu erkennen sind. Dort wird vor allem versucht, klassifiziert nach ausgew?hlten Handlungstypen entsprechende Redemittel zur Verfügung zu stellen, ohne sie jedoch in Bezug auf ihre situative Einbettung und

24 Es ist gleich darauf hinzuweisen, dass sich die Funktion einiger der genannten Kennen-lern-Fragen neuerdings teilweise ge?ndert hat. Insbesondere die letzte Frage ist in den letzten Jahren allm?hlich zu einer empfindlichen Informationsfrage geworden, weil das einst mehr oder weniger einheitliche Einkommen im heutigen China, vor allem in Gro?st?dten und Wirt-schaftszentren, inzwischen gro?e Unterschiede zeigt, so dass diese Frage ihre Funktion als routinierte H?flichkeitsfloskel verloren hat.

Z UR LINGUISTISCHEN P RAGMATIK DES C HA F 31

ihre Verwendungsbedingungen n?her zu erl?utern. Ein Beispiel:25

赞成,肯定,接受 (Zustimmen, Anerkennen)

我同意……;我基本同意……;我完全同意……

我赞成(赞同)…… 意见(看法;做法)

我支持……(行动)

对…… 我表示同意(赞成;赞同;支持;理解)

对…… 我持相同的看法(意见;态度)

对;你说得对;可不是吗

真是个好主意

你的……有道理;你说(做)得有道理

你的……是正确的(完全正确的)

你的……是理所当然的(无可非议的;天经地义的)

In dem analysierten Lehrwerk werden eine Reihe von Redemitteln angeboten, kaum aber situationsbezogene Erl?uterungen für ihren angemessenen Gebrauch. Trotz interessanten Materials fehlt insbesondere die Thematisierung der sozio-kulturell verankerten Handlungsregeln und -grenzen im Chinesischen. Offenbar wurde von den Autoren übersehen, dass es sich bei den Lernenden um Men-schen aus anderen Kulturen handelt, deren Handlungsmuster sich von denen im chinesischen Kontext stark unterscheiden k?nnen. Von den Chinesischlernenden wird quasi erwartet, von selbst die situativ und fremdkulturell determinierten Handlungsregeln und damit die Problematik von Missverst?ndnissen aufgrund kulturdifferenter Handlungsmuster zu erkennen und das eigene Handeln in kul-turellen überschneidungssituationen danach auszurichten.

?hnlich ist die Vermittlung von Handlungswissen in dem Lehrbuch "Wirt-schaftssprache Chinesisch" gestaltet. 26 Dort wird allerdings versucht, die ange-botenen Redemittel in Beispieldialoge zu integrieren, die interaktiv aufgebaut sind. Somit wird in gewissem Ausma? ein Kontext mitgeliefert, in dem die ent-sprechenden Redemittel, mit denen Handlungen eines bestimmten Typus voll-zogen werden, eingesetzt werden k?nnen. Ein Beispiel:

表示安慰和劝勉的说法举例 (Tr?sten)

别把这事放在心上。 想开点儿。 功夫不负有心人。

你们不要有思想负担。 千万不要这么想。 没什么大不了的。

胜败乃兵家常事。 就算是交学费罢了。 吃一堑长一智嘛。

留得青山在,不怕没柴烧。 一切都会过去的。 别灰心。

在哪儿跌到就在哪儿爬起来。 我们定能挺过这一关。 别着急,慢慢来。

估计不会有什么事儿的。 心急吃不成热豆腐。 来日方长。

……

Positiv zu bewerten ist in diesem Lehrwerk auch der Versuch, als Teil der Ge-

25 Zhu Renzhi/Ren Xuemei 1999 (hier: S. 5).

26 Zhang Li/Zhang Jingxian & Nie Xuehui 1999 (hier: S. 252ff.).

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spr?chsanalyse bestimmte, mit dem jeweiligen Handlungsmuster in Zusammen-hang stehende Handlungsstrategien aufzuzeigen. Zur Ausübung von Kritik wer-den z. B. folgende Strategien aufgezeichnet und anhand von Sprachbeispielen erl?utert:27

批评、谴责策略 (Kritisieren):

1. 客气地表示将提出批评 恕我直言

委婉批评 我们对你方的做法深表遗憾

2. 直接提出正式批评 我们表示强烈抗议

提出要求 希望你方能有错必纠,认真履行合同

威胁对方 否则,我方将诉诸法律

Für den Fremdsprachenunterricht sind sowohl Kenntnisse über den Zusammen-hang zwischen Situationseinsch?tzung und Handlungsvollzug als auch zwischen Handlungstyp und ?u?erungsformen von Bedeutung. Die obigen Ausführungen sind insofern problematisch, weil bei den Erl?uterungen und Einübungen der Handlungsstrategien ein wesentlicher Faktor der Gestaltung der Kommunikationsstrategie fehlt, n?mlich die Beziehungsgestaltung. Es wird der Eindruck vermittelt, als k?nnten die dargelegten Strategien der Kritik ohne Rücksicht auf bestimmte soziale Hierarchien oder auf den jeweiligen Vertrautheitsgrad der Beteiligten verfolgt werden.

Es wird dabei au?erdem übersehen, dass es in der Pragmatik nicht allein da-rauf ankommt, ob und welche grammatischen, lexikalischen und handlungstypo-logischen Mittel eine Sprache zur Verfügung hat, um etwa Kritik ausüben zu k?nnen. Viel gewichtiger erscheint die gesellschaftlich begründete Grundeinstel-lung zur Kritik, die den Kulturwert der auf Kritik bezogenen Handlungen erst bestimmt und ihre konkreten Ausführungen determiniert. Es geht dabei schlie?-lich auch um unterschiedliche Interaktionsnormen, die in gegebenen Situationen kulturspezifische Erwartungen und Interpretation ausl?sen k?nnen.28

Was die Kommunikation zwischen Deutschen und Chinesen angeht, muss man mindestens mit folgenden interkulturellen Variationen bzw. Abweichungen rechnen (Liang 1996b:155):

-Ein und derselbe Handlungstyp kann im Deutschen und Chinesischen inhalt-lich-thematisch unterschiedlich besetzt sein und sprachlich unterschiedlich realisiert werden.

-Gleiche oder ?hnliche Ausdrucksformen k?nnen unterschiedlichen Hand-lungstypen zugeordnet werden.

27 A. a. O., S. 226.

28 Zu Kulturtechniken der Kritik in chinesischen Gespr?chen siehe Liang (1998:225-233).

Z UR LINGUISTISCHEN P RAGMATIK DES C HA F 33 -Gleiche oder ?hnliche Ausdrucksformen eines Handlungstyps k?nnen im Deutschen und Chinesischen funktional unterschiedlich konstruiert werden. -Ein und derselbe Situationskontext kann unterschiedliche Handlungsmuster aktivieren.

-Ein und derselbe Handlungstyp – auch im Hinblick auf die Handlungsse-quenzen bzw. den gesamten Handlungsablauf w?hrend eines Kommunikati-onsprozesses – kann schlie?lich im Deutschen und Chinesischen mit unter-schiedlichen Erwartungen, Reichweiten und Zumutbarkeitsempfindungen verbunden sein und damit zu unterschiedlichen Interpretationen führen.

Für die Aufgabe, Sprachverwendung und sprachliche Kommunikation in kultu-rellen überschneidungssituationen zu untersuchen, ist es deshalb vonn?ten, die Sprechhandlungen sowohl auf ihre linguistisch-pragmatischen als auch auf ihre interkulturellen Aspekte hin zu analysieren. Die ersten Ans?tze zur Entwicklung einer interkulturellen Pragmatik und entsprechender forschungsstrategischer und methodischer überlegungen sollen im Folgenden zusammengefasst werden.

Bewusstsein der kulturellen Bedingtheit sprachlichen Handelns Handlungsregeln sind keine natürlichen Kategorien, sondern kulturhistorisch und sozial konstruiert. Es ist daher davon auszugehen, dass Menschen in unter-schiedlichen Kulturgemeinschaften different sprechen. Die in den Differenzen der Sprechhandlungsmuster eingebetteten Handlungsregeln reflektieren diffe-rente Kulturwerte oder wenigstens differente kulturelle Wertepriorit?ten (Wierzbicka 1991:69). Da die soziokulturellen Faktoren der Kommunikation nicht immer aus den konkreten Sprachdaten direkt erkenn- bzw. erschlie?bar sind29, kann sich eine linguistisch-pragmatische Untersuchung nicht auf die Auseinandersetzung mit sprachlichen Daten beschr?nken. Eine Analyse der konkreten Kommunikationssituationen einschlie?lich ethnographischer Aspekte ist unbedingt erforderlich.

Pr?ferenz der Beziehungsaspekte

Kommunikation hat nicht nur einen Inhalts-, sondern auch einen Beziehungsas-pekt (Watzlawick u. a. 1990). Für eine sich interkulturell ?ffnende linguistisch-pragmatische Forschung ist der Beziehungsaspekt in mehrfacher Hinsicht von besonderer Relevanz: Zun?chst kann der interaktiven Gestaltung der interperso-nalen Beziehung in verschiedenen Kulturen unterschiedlicher Stellenwert einge-r?umt werden. Von daher setzt die Analyse der interpersonalen Beziehungen eine Analyse der für den Kommunikationsprozess relevanten Sozialstrukturen der jeweiligen Gesellschaften voraus. Es gilt auch zu analysieren, wie diese so-29Es handelt sich hier um ein in fast jeder interaktiven Analyse einschlie?lich der so ge-nannten Konversationsanalyse zu beobachtendes Problem. Vgl. dazu Lüger (1992:54), Liang (1993:166), Kotthoff (1994:90f.).

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zial unterschiedlich strukturierte Beziehungsgestaltung und m?glicherweise auch differente Beziehungsqualit?t in einer interkulturellen Kommunikationssi-tuation interaktiv zum Tragen kommt.

Ver?nderungsdynamik

Interkulturelles Handeln vollzieht sich in der Regel unter Kommunikationsbe-dingungen, die sich nicht mehr nur auf eine, sondern auf zwei oder mehrere Kul-turen beziehen. Bei einer Interaktion, in der Kooperationspartner kulturdifferen-ter Herkunft und Sozialisation aufeinandertreffen, überschneiden sich die eige-nen und fremdkulturellen Verhaltens- und Handlungsregeln. Bei einer solchen kulturellen überschneidungssituation handelt es sich nicht blo? um kontext-unabh?ngiges kulturdifferentes Kommunikationsverhalten, sondern auch um dessen wechselseitige Wirkung auf die Kooperationspartner und um dessen Ein-fluss auf die Gesamtgestaltung des Kommunikationsprozesses (Liang 1996b:143). Für eine Untersuchung zur Pragmatik in kulturellen überschnei-dungssituationen ist daher mit interkulturell motivierter Ver?nderungsdynamik zu rechnen. Zu beachten ist au?erdem, dass die Handlungen der beteiligten In-teraktionspartner in einer interkulturellen Kommunikationssituation nicht allein durch die kulturbedingte Konzeptualisierung sprachlichen Handelns, sondern auch durch die kommunikativen Bedingungen der aktuellen Interaktionssituati-on bestimmt werden. Das Kommunikationsverhalten der Interaktionspartner wird schlie?lich nicht nur von den situativen Bedingungen bestimmt, sondern die Interaktionspartner bestimmen ihrerseits zugleich auch die situativen Bedin-gungen mit. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie die Hand-lungen bzw. Handlungsmuster in einer kulturellen überschneidungssituation als konstitutive Tr?ger interaktiv gestaltet und ausgehandelt werden.

Interkulturalit?t

Zusammenfassend ist zu betonen, dass Interkulturalit?t nur im wechselseitigen Bewusst- und Vertrautwerden mit differenten Verhaltens- und Handlungsmus-tern zwischen den Kulturen entstehen kann. Für eine linguistisch-pragmatische Studie, die auf interkulturelle Kommunikationssituationen zielt, bedeutet dies, dass die Vergleichsparameter, die zur Ermittlung der Interkulturalit?t des Prob-lemfeldes herangezogen werden, nicht auf theoretisch wie methodologisch in einer Kultur verankerten Prinzipien und Bedingungen beruhen, sondern sie müs-sen in wechselseitigem Bezug auf die betreffenden Kulturen und deren Wert- bzw. Regelsysteme ermittelt werden. In diesem Sinne kann eine interkulturelle Forschung zur linguistischen Pragmatik nur funktionieren, wenn sie auch kul-turdifferente Interpretationen der erhobenen Daten in die Untersuchung mit ein-

Z UR LINGUISTISCHEN P RAGMATIK DES C HA F 35 bezieht.30 Derartige Perspektivenwechsel sind für die gesamte Gestaltung sprach- und kulturvergleichender Forschung notwendig. Literaturverzeichnis

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30Die so genannten Kontrollgespr?che, d. h. die Dateninterpretationssitzungen mit den an den aufgezeichneten Gespr?chen beteiligten Interaktionspartnern kulturdifferenter Her-kunft, stellen einen wichtigen Schritt in diese Richtung dar. Von dieser Methode wird bei den vor allem aus der Ethnographie der Kommunikation kommenden Gespr?chsanalytikern zu-nehmend Gebrauch gemacht. Vgl. dazu die Hinweise bei Kotthoff (1994:91).

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